Bachs dreistimmige Sonaten für die Orgel sind allein seine Erfindung. Keinerlei Vorbilder sind dafür bekannt. Dreistimmige Orgelkompositionen gabe es zwar schon von Zeitgenossen und älteren Organisten, nicht aber zyklische, rein instrumental erfundene Werke ohne Bezug zu einer Kirchenliedmelodie. Und diese Alleinstellung behielten die hin und wieder schon im 18. Jahrhundert abgeschriebenen Werke auf lange Zeit.
Bachs Reinschrift der sechs Sonaten von etwa 1730 trägt keinen gemeinsamen Titel, sondern nennt jede der dreisätzigen Satzzyklen „Sonata à 2 Clav: et Pedal“. Eine Abschrift von der Hand seines ältesten Sohnes Wilhelm Friedemann und von Bachs zweiter Frau Anna Magdalena muß noch vor 1733 in Leipzig entstanden sein. In diesem Jahr verließ der 1710 geborene Wilhelm Friedemann Leipzig, um in Dresden seine erste Stelle als Organist der evangelischen Schloßkirchengemeinde in der Sophienkirche anzutreten.
Der dank des Kontaktes zu Bachs Söhnen gemeinhin gut unterrichtete erste Biograph Johann Sebastian Bachs, Johann Nikolaus Forkel, schrieb 1802: „Bach hat sie für seinen ältesten Sohn, Wilhelm Friedemann, aufgesetzt, welcher sich damit zu dem großen Orgelspieler vorbereiten mußte, der er nachher geworden ist. Man kann von ihrer Schönheit nicht genug sagen. Sie sind in dem reifsten Alter des Verfassers gemacht, und können als das Hauptwerk desselben in dieser Art angesehen werden.“
Da der Thomaskantor Bach in Leipzig keine Pflichten als Organist hatte, zeichnen sich seine Orgelwerke aus dieser Zeit durch einen gegenüber der Tradition freieren und unkonventionelleren Zugriff aus. Die sechs Sonaten unterstreichen diese Eigenschaft. Hin und wieder konnten ältere Triokompositionen für drei Instrumente als Vorbilder ausgemacht werden. Das mindert aber nicht ihren Rang als Orgelwerke, kam doch nun die Forderung dazu, Stimmverläufe zu entwerfen, die - gleich ob mit Händen oder Füßen gespielt - auf einander bezogen und wiedererkannt werden konnten.
Max Reger wird gern als ein „janusköpfiger“ Meister beschrieben. Einzelne Aspekte seines Komponierens sind langen Traditionen verpflichtet, andere blicken voraus. Die Paarung einer Fuge mit einem freieren Eröffnungssatz wie einer Fantasie nimmt Anleihe in der Geschichte der Orgelkomposition. Der Grundsatz, „auf jeden Akkord könne jeder beliebige Akkord folgen“, zusammen mit einer ungeheuren Beschleunigung des harmonischen Wechsels macht seine Modernität aus und läßt ihn zum Totengräber des lange bewährten Systems der Funktionsharmonik mit ihrer Hierarchie der Tonartenbeziehungen werden.
Die „Phantasie und Fuge über B-A-C-H“ op. 46 vereint alle diese Eigenschaften. Gewidmet ist sie - angeblich auf den Rat von Mutter Reger hin - Joseph Rheinberger (1839-1901), dem angesehensten Kompositionslehrer Süddeutschlands im späten 19. Jahrhundert, der selbst ein umfangreiches Werk für Orgel hervorgebracht hatte, jedoch nie im Verdacht stand, ein Avantgardist gewesen zu sein. Rheinberger lobte Reger für die Fuge, blieb der Fantasie gegenüber jedoch reserviert. Regers ungebärdiger, dionysischer Ausdruckswille stand Rheinbergers immer nobel gezügeltem romantischen Klassizismus wohl doch zu fern. Reger selbst war der Abstand zu allem bisher auf der Orgel Gewagten durchaus bewußt, wenn er Freunden gegenüber meinte, „bis an die äußerste Grenze der harmonischen u. technischen Möglichkeit“ gegangen zu sein (an Joseph Renner, 18.12.1900). Die spieltechnische Meßlatte beschrieb er selbst so: „u. Liszt muß einer gespielt haben, ehe er an meine ,Elefantenʻ gehen kann!“ (an Otto Leßmann, 14.1.1901). Was harmonisch auf den Hörer zukommt, enthüllen schon die ersten Akkorde des B-A-C-H-Motivs: es-Moll, F-Dur, c-Moll, E-Dur.
Die Fantasie steht in b-Moll, die Doppelfuge mit riesenhafter Steigerung von Lautstärke und Tempo in B-Dur. Nach einer Generalpause am Höhepunkt der Fuge zitiert Reger das B-A-C-H-Motiv des Anfangs und koppelt es mit dem zweiten Fugenthema.
Reger schrieb das Werk zwischen dem 10. und 17. Februar 1900 während seines zweiten Aufenthaltes im oberpfälzischen Weiden. Ein adäquates modernes Instrument, an dem er seine dort zahlreich entstandenen Orgelkompositionen erproben konnte, war in Weiden nicht vorhanden. Als erster Interpret stand ihm jedoch sein Freund Karl Straube, der Organist am Willibrordi-Dom im Wesel, wo die größte Orgel des Rheinlandes stand, zur Verfügung. Straube, der als Orgelvirtuose, Lehrer und Herausgeber eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Verbreitung und Interpretation von Regers Werken erlangen sollte, konnte schon Ende Juni desselben Jahres die Uraufführung - aus dem Manuskript - in Wesel melden. Max Reger hat Straube dort allerdings wohl nie gehört. Auf Straubes Einfluß gehen vermutlich die gegenüber der Reinschrift gemäßigteren Tempi des Erstdrucks zurück.
Opus 46 steht natürlich ganz unter dem Stern von Regers Bach-Verehrung: „In Bälde hoffe ich dazu zu kommen, und für Orgel eine Fantasie und Fuge über B-A-C-H zu schreiben; das muß ein Werk größten Styls und Kaliber werden!“ (25.1.1900 an Caesar Hochstetter) „
u. werde mir alle Mühe damit geben!“ (26.1.1900 an Alexander Wilhelm Gottschalg).
Phantasie und Fuge über B-A-C-H und die Sechs Trios für Orgel von Max Reger sind durch ihre Entstehung engstens miteinander verknüpft. Die Trios komponierte Reger unmittelbar vor der Bach-Hommage im Januar und Februar 1900 in Weiden und bezeichnete sie selbst als „das Gegentheil von dieser Bach-Phantasie“ (an A. W. Gottschalg, 27.2.1900). Die Werkgruppe läßt natürlich sofort an Bachs sechs Sonaten in strengem Triosatz für Orgel denken. Der Bezug zu Bach wird bei Reger auch dadurch gestiftet, daß die Trios als opus 46b, Phantasie und Fuge über B-A-C-H als opus 46a an den Aibl-Verlag in München geschickt wurden - das Paket mit vier weiteren Manuskripten wurde Reger mit 700 M honoriert. Erst im Verlag wurden die Opusnummern in die heutige bekannte Zuordnung gebracht. Das gleichzeitige Erscheinen sorgte sofort für Vergleiche beider Werke. Reger selbst urteilte: „diese Stücke sind bedeutend leichter; Pedal natürlich immer obligat; wozu hat man denn ,Beeneʻ?“ (an Gustav Beckmann, 2.2.1900), er empfahl sie als Unterrichtsmaterial „im königlichen Lehrerseminar in den oberen Kursen“ (an Karl Wolfrum, 6.10.1900). Der Rezensent der „Neuen Zeitschrift für Musik“, Friedrich L. Schnackenberg, freute sich: „,Endlich einmal etwas Leichtes von Regerʻ; so athmet wohl auf, wer nach diesem babylonischen Thurme Op. 47 in die Hand nimmt.“
Für dieses Urteil braucht es aber auch den „babylonischen Thurm“ von opus 46. Für sich genommen sind die Trios, vor allem die abschließende Fuge mit ihrer sorgfältig vorgeschriebenen Artikulation durchaus nicht anspruchslos. ,Echteʻ Trios in der Bedeutung von Bachs Sonaten, sind allerdings nur das erste und dritte Paar der sechs Stücke. Die Canzonetta an dritter Stelle ist eine vierstimmige Bearbeitung eines erfundenen cantus firmus in norddeutscher, Bachscher Manier. Das Scherzo, Nr. 4, kennt durchaus akkordische Passagen. Das Trio in der Mitte wird aber seinem Namen voll gerecht. Reger beweist, daß er seinen Bach von den Inventionen und Sinfonien bis zu den Choralbearbeitungen und Triosonaten gründlich studiert hat.
Mit der Widmung der Trios an Gerard George Bagster (gest. um 1917) bedankte sich Reger für eine günstige Besprechung seiner Werke durch den Wiener Musikkritiker und Lektor im „Musical Standard“ 1899. Die ersten beiden Stücke wurden von Karl Beringer am 1. Juli 1901 im Ulmer Münster uraufgeführt.
Karl Straube, der wichtigste Propagandist Regers in der Orgelwelt, beschrieb die Trios 1901: „Es sind dies sechs Musterstücke an Feinheit und Grazie, in welchen sogar Humor, soweit er auf der Orgel zulässig ist, zu seinem Recht kommt.
Der Pathetiker Max Reger ist hier nicht zu finden, wir atmen fast die Luft der Rokokozeit. Zierlich, niedlich, wenn es sein muß, auch drollig ist diese Musik.“ Über die Zulässigkeit von Humor wird man heute anders denken, hier darf er hervortreten.
Zopf und Perücke hatte Reger schon in seinem ersten Orgelzyklus, den Drei Orgelstücken opus 7 von 1892/93 aufgesetzt, und dem Trio auf der Orgel à la Bach rückte er mit Freund Straube in der „Schule des Triospiels“ von 1903 zu Leibe, in der die beiden Bachs zweistimmige Inventionen für Orgel bearbeiteten.
Ekkehard Krüger